Yaenniver und mein Zugang zum Feminismus
Wenn man in meinem Alter nach einem Konzert eine Künstlerin anschreibt, obwohl man sie persönlich gar nicht kennt, dann gehört wohl eine Vorgeschichte dazu. Oder anders formuliert: da muss etwas passiert sein … Ist es und so habe ich wie ein Teenie der Künstlerin Jennifer Weist alias Jennifer Rostock alias Yaenniver nach ihrem Auftritt in der Live Music Hall in Köln geschrieben. Weil mich die zwei Stunden Live-Musik dort nachhaltig bewegt haben. und ich im besten fall einmal in einen Austausch gelangen könnte …
Aber erst einmal ein paar Jahre zurück: Ich bin 2018 quasi wie die Jungfrau zum Kinde zu Jennifer Rostock gekommen, nachdem ich im Netz eher zufällig ihre musikalischen Statements gegen die BILD und die AfD gesehen habe. Kurz darauf stand ich im MediaMarkt an der Kasse und so, wie für Kinder im Supermarkt die Süßigkeiten im Bereich der Warteschlange platziert sind, waren es dort seinerzeit die CDs. Und ich das perfekte »Opfer«. Ohne jede Erwartung. Aber mit eindrucksvollem Ergebnis. Es war die CD »Worst of Jennifer Rostock«, die fortan ständig im Auto lief. Neben der musikalischen Variabilität waren es vor allem die texte, die mich unentwegt fesselten. parallel fielen mir Facebook-posts von Yvonne Rüller auf, einer befreundeten Musikerin, die ich ebenfalls sehr schätze. Sie zitierte immer wieder Jennifer Rostock und wir tauschten uns intensiv über die Haltung in den Texten aus.
Spontan beschloss ich dann damals für Düsseldorf Tickets zu kaufen und bin mit meinem damals 16jährigen Sohn hin. Die angesprochene CD lief ständig auf dem Weg zur Schule, weswegen er unbedingt mitwollte. Wir waren so geflashed, dass wir kurz darauf eine Vater-Sohn-Tour zum vorerst letzten Konzert von Jennifer Rostock nach Berlin gestartet haben.
Nackt auf Tour
2021 dann die öffentliche Geburtsstunde von YAENNIVER und Tickets für Köln. Da war sie also wieder, zurück als Yaenniver und offensichtlich noch provozierender in ihrer Art, ihren Texten und gleichzeitig irgendwie auch noch einmal faszinierender. Aber es war auch die Zeit der ständigen Verschiebungen von Konzerten und so verlor ich ein wenig die Musik aus den Augen und beschäftigte mich auch kaum mit den weiteren Songs, die nach und nach das Album »Nackt« vervollständigten.
In diesem Monat nun endlich der Live-Auftritt in Köln und im wesentlichen wusste ich nur, dass »Nackt« natürlich weniger auf den Kleidungsstil, als auf das seelische Ausziehen bezogen war.
Gewohnt kraftvoll startete der Gig, gewohnt schnell zog Yaenniver ihr überwiegend weibliches Publikum in ihren Bann. Eine Freundin, die mit mir vor Ort war und ihrerseits zum ersten Mal überhaupt Kontakt zu Jennifer Weist hatte, war beeindruckt. Und ich wusste, wie es sich anfühlt, dieses »wie die Jungfrau zum Kinde« …

Weil ich ein Mädchen bin
Und dann kommt »Mädchen«. Der altbekannte Song von Lucilectric, dem Yaenniver einen noch tiefgründigeren, noch provozierenderen und leider auch noch bittereren Text verpasst hatte. Einen grandiosen Text, wie ich finde.
Aber Yaenniver packt einen Prolog vor das Stück und mein erster Impuls nach dem ersten Satz war so etwas wie Entrüstung. Frei nach dem Motto »Jetzt komm mir nicht so. Ich bin so nicht, ganz im Gegenteil. Und außerdem, wäre ich sonst ausgerechnet bei deinem Konzert?«
Ihre Ansprache folgt gleich, aber ich schicke voraus: am Ende ist das der Grund, warum ich jetzt diesen blogbeitrag hier schreibe. Weil es mich doch verdammt zum Nachdenken angeregt hat.

Yaenniver: „Das ist ein wirklich schweres Thema. aber genau deswegen würde ich gerne kurz mit euch darüber sprechen, wenn’s okay ist. Jetzt hab ich gesehen, ein paar Männer sind ja heute Abend auch da … Alle Männer jetzt so: ich geh ganz kurz ein Bier holen … Bin gleich wieder zurück. Nee, ich weiß natürlich, liebe Männer, ihr seid alles Feministen. Sonst wärd Ihr ja nicht beim Yaenniver-Konzert, oder?
Aber, wo ich Euch schon mal hier habe: Sexualisierte Gewalt geht am aller häufigsten von Männern oder männlichen Jugendlichen aus. Aber es sind immer noch die Betroffenen, die über dieses strukturelle Problem sprechen. Und deswegen möchte ich Euch heute Abend einladen, liebe Männer, nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung zu sein. Und wie geht das? Wie geht das? In erster Linie mit Selbstreflexion. Fragt Euch mal, ob Ihr in euerm Leben schon mal was Übergriffiges gesagt oder getan habt. Oder weggesehen habt, wenn jemand anderes was Übergriffiges gesagt oder getan hat. Und wenn Ihr diese Frage mit Ja beantworten könnt, dann ist es Zeit, Euch Euern Fehler einzugestehen und dafür zu sorgen, dass sowas nie wieder passieren kann. Das ist der erste Schritt. Außerdem würde ich Euch empfehlen, mit Euern Freundinnen, Partnerinnen, Kolleginnen mal über dieses Thema zu sprechen. Mal zu schauen, was sie für Erfahrungen damit gemacht haben. Denn ich kann Euch sagen, sie werden Erfahrungen damit gemacht haben. Und als allerletztes, und das gilt für uns alle, nicht nur für die Männer, für uns alle ist es am allerwichtigsten, dass wir Betroffenen glauben, dass wir Betroffenen zuhören, dass wir ihnen die Hand reichen, wenn sie unsere Hilfe brauchen. Und dass wir niemals wegsehen. Niemals wegsehen. Nicht in der Familie, nicht im Freundeskreis, nicht auf der Arbeit und auch nicht auf ’ner Party. Versprecht Ihr mir das? Ich danke Euch für’s Zuhören.“
Da stand ich nun »als Mann« mit diesen Worten im Ohr.
Zahl die Nacht auf Raten
Nur die Drinks zahl‘ ich bar
Noch nicht mal Zwei
Jenny, Bitch mach drei
Fremde Hände, fremder Schweiß,
Lass mich mal vorbei
Warten auf Wannabe, warten auf Godot
Zieh an meiner Vogue, jeder Mann ne Show
Auch wenn bestimmt alles stimmt weiß ich nie ob alles stimmt
Weil ich ein Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Pass ich immer auf, ist ja kein Problem
Ist ja mein Problem
Hand am Arsch, wenn ich feiern geh‘
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Bin ja selber Schuld, wenn ich mich beweg‘
Wie ich mich beweg
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Und setz mich zu dir hin
Hab alles im Blick, aber nicht dich im Sinn
Mach mein eigenes Ding,
Zahl‘ meinen eigenen Gin
Ja, ich bin so froh, dass ich ein Mädchen bin
Auch wenn ich weiß, was das heißt
Wenn das heißt, das es meist nicht so leicht ist für mich,
Wie es für dich ist, vielleicht
Du sagst, wir sind gleich
Und du meinst, dass das reicht
Weil ich ein Mädchen bin
Und du nicht weißt, was das heißt
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Pass ich immer auf, ist ja kein Problem
Ist ja mein Problem
Hand am Arsch, wenn ich feiern geh‘
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Bin ja selber Schuld, wenn ich mich beweg‘
Wie ich mich beweg‘
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin
Jaja, jaja
Weil ich Mädchen bin
Jaja, jaja, schon klar
Weil ich ein Mädchen bin
Jaja, jaja, weil ich Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Pass ich immer auf, ist ja kein Problem
Ist ja mein Problem
Hand am Arsch, wenn ich feiern geh‘
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Bin ja selber Schuld, wenn ich mich beweg‘
Wie ich mich beweg‘
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin, Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin
Seebrücke

»Aber es sind immer noch die Betroffenen, die über dieses strukturelle Problem sprechen.«
Insbesondere dieser Satz hat mir zu Denken gegeben. Denn ich bleibe dabei: ich bin ausschließlich deswegen Teil des Problems, weil ich nunmal Mann bin. Ganz sicher nicht wegen meiner Einstellung, meines Verhaltens oder meiner Haltung. Da denke ich tatsächlich auf einmal: Ja, ich bin Feminist. Und am Rande sei erwähnt, dass eine Frau wie Jennifer Weist mir persönlich einen noch sehr viel sympathischeren Zugang zu dieser Bezeichnung vermittelt, setzt sie doch nicht Mann mit Feindbild gleich, was mir im Verlauf meines Lebens leider allzu häufig widerfahren ist im Kontext mit Feminismus.
Als ich ein paar Tage nach dem Konzert noch immer registrierte, dass ich nachspüre, habe ich im Auto sitzend tatsächlich zum ersten Mal ganz bewusst das Album »Nackt« durchgehört. Und auch da erst registriert, dass SEEBRÜCKE ein Song aus dem Solo-Album ist.
Während des Konzertes hatte ich das Stück ganz anders verortet und mich gewundert, dass Yaenniver dies aus emotionalen Gründen einfach nicht live singen könne. Nun hörte ich den Text, hielt inne, spulte zurück und habe heftigst geschluckt. Einordnen habe ich die Worte aber nicht können. Aber sie haben einen Film projiziert, der sehr bewegt hat. Also habe ich ein bisschen recherchiert und bin auf ein Stern-Interview aus dem Jahr 2021 gestoßen:
Absolut lesenswert | Hier gehts zum Interview >>.
Darüber hinaus eröffnet einem das Lesen des Interviews noch einen ganz anderen Zugang zu ihren oft krassen Texten und ihrem krassen Auftreten. Beides wird gerne völlig falsch verstanden und interpretiert, wie ich in Gesprächen selbst schon feststellen musste. Und mich dabei ertappte, in die Rolle des Verteidigers zu schlüpfen. Mit einem Schmunzeln: denn mich braucht sie dafür ganz sicher nicht.

Mit Seebrücke hatte Jennifer Weist einen ganz intimen, mutigen Einblick in ihr Leben und auch in ihre Seele gegeben. Schlagartig poppten Momente des Konzertes vor meinem geistigen Auge auf und war erst recht tief bewegt. Zumal das Bild »der kleinen Jennifer« mich ganz stark an die Geschichte einer Freundin erinnert, die mir sehr am Herzen liegt …
Ein »interaktives musikalisches Schreien« zum Ende des Konzertes fand ich schon in der Live Music Hall irgendwie schräg und gleichzeitig besonders. Jetzt, vor dem noch viel detaillierteren Hintergrund, würde ich das gerne noch einmal tun wollen …
Vielleicht bin ich gerade mal wieder zu sentimental. Aber mich hat das bewusste Hören des Songs und dann das Interview zum Album, was ich mir im Auto von Siri hab vorlesen lassen, sehr, sehr bewegt.
Dass wir Männer gefragt sind, beschäftigt mich seit ihrer Ansage beim Konzert zu »Mädchen« und ob ich, der ja eher schon ein Feminist ist, auch gemeint ist.
JA, BIN ICH! 🫶
Im Interview stellt sich das so dar:
„Mädchen Mädchen“ ist ein Duett mit Luci van Org. Der Song ist an ihren 90er-Jahre-Hit „Mädchen“ angelehnt. Darin sprechen Sie Probleme an, die jede Frau kennt – zum Beispiel von Männern beim Feiern ungefragt angefasst zu werden. Warum glauben Sie, sind sexualisierte Übergriffe immer noch ein Problem?
Weist: Sexualisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe oder Belästigungen sind ein Männerproblem, aber bis jetzt tragen ausschließlich wir Frauen die Konsequenzen dafür. „Mädchen Mädchen“ ist ein Aufruf an alle Männer, im Kampf gegen sexualisierte Gewalt endlich an unserer Seite zu stehen. Jede dritte Frau ist von sexualisierter Gewalt betroffen und wir können dieses Problem nur lösen, wenn wir aus den bestehenden patriarchalen Strukturen ausbrechen. Sexualisierte Gewalt ist ein radikales Machtinstrument der Besitzergreifung der Frau durch den Mann und das wird von unserer Gesellschaft nicht sanktioniert, sondern bewusst geschützt. Wenn sich das nicht ändert, wird sich auch nichts an dem Problem selbst ändern.
